Stellungsnahme von Dr. Bernd Steinacher, Verband Region Stuttgart, zum Strukturbericht 1998/99
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Die Schattenseite

Herr Richter und Herr Dr. Rogg haben sich auf die Zukunftschancen der Region auf High-Tech und Hochqualifizierte konzentriert. Ich werde mich auf das Schwerpunktthema "Geringqualifizierte" und dabei ganz besonders auf frauenspezifische Fragestellungen konzentrieren. Sie werden sehen, dass wir am unteren Ende der Leistungsskala wesentlich weniger Antworten parat haben als an der Spitze.

Die Relevanz

Die Region Stuttgart hat heute rund 212.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte ohne Schulabschluß. Dies ist der höchste Anteil (von rund 22 Prozent) vergleichbarer Ballungsräume bundesweit.

Diese Fakten haben ein doppeltes Gesicht:

Positiv ist, dass wir mehr Arbeitsplätze für gering qualifizierte Menschen bereitstellen können als jede andere Metropolregion in Deutschland. Deshalb haben wir auch eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten.
Die Schattenseite ist: solange "lean production, lean management, lean administration ..." die Maxime sind, sind diese Arbeitsplätze besonders von Rationalisierungsbestrebungen bedroht. Im verarbeitenden Gewerbe umso mehr, als die Region Stuttgart mit einem Anteil von 48 Prozent bundesweit an der Spitze steht.

Der Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte hat in den letzten 20 Jahren massiv abgenommen.
  • Dies gilt für das produzierende Gewerbe: 1980: 186.000 Arbeitsplätze für gering qualifizierte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Dies entspricht 37,7 Prozent. 1998: 108.000 gering qualifizierte Arbeitsplätze. Dies entspricht 26,5 Prozent. Besonders zu leiden hatten unter diesem Arbeitsplatzabbau gering qualifizierte Frauen. Deren Anteil sank von 88.000 (47 Prozent) auf rund 40.000 (38 Prozent).
  • Kein anderes Bild ergibt sich bei einfachen Dienstleistungen: 1980 gab es 117.000 einfache Dienstleistungsarbeitsplätze, dies entspricht 29 Prozent. 1998 waren es 104.000, dies entspricht 19 Prozent. Auch hier ein deutlicher Rückgang von Frauenarbeitsplätzen von 78.000 (34,4 Prozent) auf 64.000 (21,2 Prozent).
Die Herausforderung: eine ehrgeizige und eine realistische Perspektive 

Die Herausforderung lautet: Perspektiven zu schaffen für 212.000 Menschen in der Region Stuttgart, die gering qualifiziert sind und deren Arbeitsplätze mittel- und langfristig alles andere als gesichert sind.
Die ehrgeizige Perspektive lautet: in großer Anzahl Arbeitsplätze für gering Qualifizierte zu schaffen. Eine Antwort für alle.
Die realistische Perspektive lautet: zwar keine Arbeitsplätze für alle, aber wenigstens eine Chance für alle, die sich Mühe geben, die bereit und in der Lage sind, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen.
Stand heute: die ehrliche Antwort lautet: trotz verschiedener Ansätze keine Antwort für alle gering qualifizierten Menschen in der Region.
Die wahre Aussage des Gutachtens lautet, daß wir hier und heute keine Antwort für alle gering qualifizierten Menschen haben.

Verschiedene Ansätze sind vorhanden. Sie tragen aber nicht weit genug.
  • Die Alterspyramide: Der Anteil älterer Menschen, die unterstützende Dienstleistungen benötigen, steigt kontinuierlich und zwar lang anhaltend. Durch Vermögen und die Pflegeversicherung sind diese Dienstleistungen prinzipiell auch bezahlbar.
  • Weitere Dienstleistungen im Haushalt (Einkaufen, Reinigung, Kinderbetreuung) werden nachgefragt von wirtschaftlich erfolgreichen Familien und Singles. Das Problem ist die steuerliche Behandlung dieser Tätigkeiten.
  • Unternehmensnahe Dienstleistungen (z.B. outgesourcte Logistik)
  • Der Erhalt einfacher Produktionsarbeitsplätze falls die notwendige Flexibilität und Lohnstruktur erhalten werden kann.

Ganz anders als in den USA fehlt bei uns die gesellschaftliche Nachfrage für einfache Dienstleistungen (das "Tütenträgerbeispiel"; Kofferträger auf dem Bahnhof; der Einkaufsservice für ältere und behinderte Menschen; der Schuhputzer auf der Königstraße). Man geniert sich, bedient zu werden.
Es fehlt aber auch an der Angebotsmentalität. Nicht genügend Menschen sind bereit, sogenannte "einfache Dienste" zu erbringen.
So "gering qualifiziert" sind Arbeitsplätze für Geringqualifizierte nun auch wieder nicht. Gerade Menschen mit einfachen Produktionsarbeitsplätzen haben Schwierigkeiten, sich auf Dienstleistungen umzustellen. Häufig fehlt es an der sozialen Kompetenz und an der Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, z.B. beim Haushaltsmanagement.

Praktische Vorschläge

Praktische Maßnahmen sind notwendig auf der Nachfrage - und auf der Angebotsseite.
Besonders die Stimulierung der Nachfrage für einfache Dienstleistungen ist ein langfristiges Unterfangen. Alle Formen der Öffentlichkeitsarbeit müssen genutzt werden. Die Stuttgarter Messe- und Kongreßgesellschaft hat mit ihrer Messe "Älter werden" einen praktischen Schritt geleistet. Imagekampagnen für einfache Dienstleistungen, wie es sie zum Beispiel für Pflegeberufe gegeben hat, müssen hinzutreten. Auch die Bundespolitik ist gefordert, für "nachfragebezogene Förderinstrumente". Hier gehört zum Beispiel die Absetzbarkeit der Ausgaben von der Steuer.
Auf der Angebotsseite müssen wir viele unterschiedliche Maßnahmen ergreifen, um Menschen in die Lage zu versetzen, überhaupt sogenannte einfache Dienstleistungen anzubieten. Hier schlage ich vier Ansätze vor:

  • Ergänzung der Qualifizierungsangebote, die gezielt eine Grundlage schaffen für die Wahrnehmung einfacher, sozialer Dienstleistungen: Sozialverhalten, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit bis hin zur Bewerberschulung. Verband Region Stuttgart, WRS und Frauenratschlag führen gegenwärtig ein Projekt mit dem Titel "Mentoring für gering qualifizierte Frauen" durch. Wir wollen eine Konzeption erarbeiten, wie gering qualifizierte Frauen trotz Strukturwandel in ihrem angestammten Betrieb eine Chance haben. Hierzu gehören Stichworte wie "Patenschaften", "Mentoring" und "Coaching".
  • Gering qualifizierte Menschen können ihre Dienstleistungen in der Regel nicht selbst organisiert anbieten. Die Schaffung von Dienstleistungspools würde für Anbieter und Nachfrager Vorteile bringen. Den Anbietern würde bei der Vermittlung von Aufträgen geholfen. Nachfrager hätten eine zentrale Anlaufstelle. Sie müßten nicht als Arbeitgeber auftreten, sondern könnten Dienstleistungen einkaufen. WRS und Arbeitsämter könnten die Schaffung eines solchen Dienstleistungspools im Rahmen der Existenzgründung fördern.
  • Eine zentrale Unsicherheit ist die Qualität der angebotenen Dienstleistung. Durch Schaffung eines von IHK, Arbeitsämtern und Region getragenen "Gütesiegels" kann Qualität und Standard gesichert werden.
  • Das "Einstiegsgeld in Baden-Württemberg", mit dem langzeitarbeitslose Sozialhilfeempfänger an Arbeitsplätze herangeführt werden, muß ausgewertet und vertieft werden. Aus der Region sind die Landkreise Böblingen und Esslingen an diesem Projekt beteiligt.

Wir werden diese Fragestellung und die formulierten Lösungsvorschläge in die Arbeitsmarktrunde, die der Ausschuß für Wirtschaft, Infrastruktur und Verwaltung beschlossen hat, einführen.

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